Die Pflege der visuellen Wahrnehmung

„Fast alles, was wir wissen, kam durch die Augen in den Kopf!“

Diese erkenntnisstheoretische These hat einen hohen Wahrheitsgehalt, erleben wir doch bis zu 90% aller Sinneseindrücke durch das Sehen.
Daher ist leicht einzusehen, dass die Qualität der visuellen Wahrnehmung einen bedeutenden Einfluss auf die Menge unseres Wissens und der spontanen Verfügbarkeit dieses Wissens hat. Es lohnt sich also, die Aufnahme von Seheindrücken so optimal wie möglich zu gestalten, weil dann der Vergleich im Gehirn mit bereits Bekanntem um so effektiver stattfindet, weniger Energie mit aufwendigem Suchen nach Vergleichseindrücken verschwendet wird und damit die Konzentration länger aufrechterhalten werden kann.

Entwicklungsgeschichtlich gesehen war der Mensch bis vor kurzem ein Jäger und Sammler, d.h. er hat nur bei Tageslicht gesehen, überwiegend seine Augen auf größere Entfernungen eingestellt und Naharbeit nur mit den Händen erledigt. Diese Entwicklung der Sehgewohnheiten verlief bis vor wenigen Generationen sehr kontinuierlich, erst das Zeitalter der künstlichen Beleuchtung, der Maschinenarbeit bis hin zur Computertechnik und das Leben in Städten haben diesen Verlauf drastisch verändert.

Ein Stadtkind, das in der siebten Etage wohnt, kann (und muss) kaum einen „visuellen Horizont“ entwickeln (wichtig für das Gleichgewicht, oder auch für das Auffinden der nächsten Zeile beim Lesen), die größten Entfernungen sind innerhalb der Wohnung 3 – 4 Meter, es braucht kein fein entwickeltes Gleichgewicht, denn es rutscht keine Treppengeländer hinunter (Fahrstuhl), es fährt nicht freihändig mit dem Rad (verboten), klettert nicht auf Bäume (nicht vorhanden oder verboten) und es läuft mit fünf Jahren noch an der Hand der Mutter, weil der Straßenverkehr so gefährlich ist.

Aber auch das Landleben ist inzwischen „verstädtert“, Bauernhöfe maschinenbestückt und automatisiert.

Fernsehen und Computer lassen in völlig statischer Körperhaltung schnellste Bewegung erleben – vor allem bei unzureichender Raumbeleuchtung eine gewaltige Irreführung der (visuellen) Wahrnehmung.

Da das Sehen, ebenso wie das Funktionieren der anderen Sinne, das Ergebnis schier endloser Übung ist, ist dieses Ergebnis auch von der Qualität des Übens abhängig.

Beleuchtung

Das menschliche Auge ist entwickelt für Tageslicht und hat seine höchste Empfindlichkeit bei gelblichem Licht (Mitte des Regenbogens).

Künstliche Beleuchtung hat oft Lücken oder Verschiebungen in der spektralen Verteilung (z.B. hoher Blauanteil bei vielen Leuchtstoffröhren) oder die Farbe führt zu angestrengtem Sehen (rotes Licht oder rote Wände im Hintergrund). Besonders wichtig für die visuelle Wahrnehmung ist die sog. Figur/Grund-Relation. Das bedeutet, dass die Position des Betrachteten zu seiner Umgebung (Peripherie) gut erkennbar sein muss, damit eine räumliche Zuordnung erfolgen kann. Für den Alltag bedeutet das die Notwendigkeit einer guten Raumbeleuchtung bei Naharbeit (Lesen, Schreiben, Bildschirmarbeit) und Fernsehen.

Arbeitsposition / Körperhaltung

Aus dem gleichen Grund ist ein ausreichender Leseabstand außerordentlich wichtig:
Der Mindestabstand beim Lesen und Schreiben ist die Unterarmlänge einschl. Faust (Harmon-Distanz).
Beim Lesen und Schreiben „mit der Nase“ geht die Figur/Grund-Relation verloren, es entsteht „Nahstress“.

„Der Mensch braucht einen geraden Horizont und festen Boden unter den Füßen.“

Bevor Lesen und Schreiben Allgemeingut war, gab es Schreiber (zumeist Mönche), die an Stehpulten geschrieben haben.
Sie standen auf dem Boden und hatten schräge Schreibflächen, sodass sie bei leicht geneigtem Kopf senkrecht auf das Papier sehen konnten! Sie wussten, dass man so ein wesentlich entspannteres und verzerrungsfreieres Sehen hat als bei einer waagerechten Unterlage mit schrägem Draufblick.
Bei sehr vielen Kindern mit Lese-/Schreibproblemen kann man beobachten, dass sie die Beine baumeln lassen (oder irgendwie um die Stuhlbeine ranken) und mit schiefhängendem Oberkörper über ihrem Heft kauern!

Geneigte Schreibtischplatten (oder aufsetzbare Lesepulte) verbessern nicht nur die visuelle Wahrnehmung durch günstigere Blickwinkel, sie zwingen auch zu einer aufrechteren Haltung beim Schreiben und verbessern damit den Lese-/Schreibabstand ebenso wie sie zu einer freieren Atmung führen.

Dabei soll die Stuhlhöhe gewährleisten, dass ein Abstellen der Füße auf dem Boden möglich ist (Stabilisierung des Horizonts).

Klassenzimmer erfüllen meistens nicht einmal die minimalsten Anforderungen an ein beschwerdefreies Lesen und Schreiben: vor allem kleinere Schüler erreichen bei weitem nicht den nötigen Arbeitsabstand und müssen häufig mit den Füßen baumeln, da sie nicht bis zum Boden reichen.

Durch die weit verbreitete blockweise Anordnung der Tische müssen viele Kinder über die Schulter nach vorne an die Tafel sehen, d.h., dass überwiegend ein Auge benutzt wird. Wenn es sich dabei nicht um das dominante Auge handelt, entsteht ein ähnliches Problem wie bei einem Fußballer, der rechtsfüßig schießen kann, aber auf der linken Seite spielen muss!
Das geschieht in einem Alter, in dem das räumliche Sehen noch nicht fertig entwickelt ist!
Um zu vermeiden, dass Lese-/Rechtschreibprobleme in der Schule erst entstehen, sollten Klassenzimmer so gestaltet sein, dass alle Kinder gerade nach vorne sehen können und Tische und Stühle ihrer Körpergröße entsprechen.

Sehverhalten

In natürlicher Umgebung ist das Sehen ein sehr dynamischer Vorgang:
Blickbewegungen (nach Richtung und Abstand) führen zu einer permanenten Überprüfung der eigenen Position und zu einem dynamischen Wechsel der Figur/Grund-Relation (s.oben).
Das bedeutet, dass sowohl die Akkommodations- als auch die Vergenzmuskulatur in optimaler Gebrauchsfähigkeit gehalten wird.
Stundenlanges Lesen oder Fernsehen lässt die Dynamik dieser Abläufe mehr und mehr in statischer Fixation erstarren. Die Folge ist ein deutliches Nachlassen der visuellen Leistungsfähigkeit.

Viele „Leseratten“ können bestätigen, dass sie beim Lesen weniger schnell ermüden, wenn sie bei jedem Umblättern einen kurzen Blick aus dem Fenster werfen. Dasselbe gilt für die Tätigkeit am Bildschirmarbeitsplatz.
Dieser kurze Moment der Entspannung und Anspannung der Muskulatur führt zu einer ganzen Kette von physiologischen Folgereaktionen (z.B. Erhöhung der beim Lesen verringerten Lidschlagfreqenz, was die Bindehaut vor Reizungen durch Austrocknung schützt).

Das Sehverhalten wird natürlich stark beeinflusst von der visuellen Leistungsfähigkeit und umgekehrt. Sind visuelle Probleme so ausgeprägt, dass eine oberflächliche Veränderung des Sehverhaltens keine Besserung bringt, so kommt es – sofern keine geeigneten Maßnahmen ergriffen werden – zur Verweigerung.

Viele Schüler mit Leseproblemen verweigern das Lesen keineswegs aus Faulheit, sondern weil sie die extreme Konzentrationsleistung nur kurze Zeit aufbringen können. Diesbezüglich kann man zu dem Schluss kommen:

Der lesefaule Schüler ist ein fleißiges Lieschen!

Mit freundlicher Genehmigung von Hans Werkstetter